Mobbing: Hilflose Helfer in Diagnostik und Therapie
Mobbing als Ursache von Krankheiten wurde inzwischen in die Lehrbücher der Psychotraumatologie aufgenommen; dies gilt aber noch nicht für die allgemeine medizinische Diagnostik – mit fatalen Folgen für Mobbingopfer bei Begutachtung und Therapie.
Argeo Bämayr
Mehr als eine Million Mobbingfälle (5) mit geschätzten 30 Milliarden DM betriebswirtschaftlichen Schäden (15) belasten auch das deutsche Sozialversicherungssystem in unbekannter Höhe. Neben Kündigungen mit hieraus resultierenden Kosten für Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe tragen vorrangig mobbingbedingte Krankheitskosten bei der Kranken- und Rentenversicherung zu den materiellen Schadensfolgen im Sozialversicherungssystem bei.
Der 100. Deutsche Ärztetag bezeichnete die Folgen von Mobbing als ein „zentrales Gesundheitsproblem“ und forderte gezielte Maßnahmen in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung, von Kranken- und Rentenversicherungsträgern sowie von den Verantwortlichen in Betrieben (5). Unbestritten führt Mobbing kumulierend zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, die das Mobbingopfer in den Suizid treiben können. Schätzungen zufolge werden bis zu 20 Prozent aller Suizide durch Mobbing verursacht (14); dies entspricht in Deutschland bis zu 3 000 Suiziden pro Jahr (13). 42 Prozent der befragten Mobbingopfer geben Selbstmordgedanken an (9). Bei einer Mobbingtelefonaktion der AOK Hamburg im August 1993 waren fast 57 Prozent der Anrufer bis zu sechs Wochen arbeitsunfähig, 31 Prozent bis zu drei Monaten und 12 Prozent über drei Monate hinaus (10).
Fehlende Schätzungen über durch Mobbing verursachte Schäden im Sozialversicherungssystem sind die Folge einer uneinheitlichen Diagnostik und Therapie, wodurch eine abgestimmte und einheitliche versicherungstechnische Abwicklung und ein koordiniertes Vorgehen gegen Mobber verhindert wird.
Diagnostische Problematik
Mobbingbedingte Erkrankungen verstecken sich hinter unzähligen Syndromdiagnosen, wie zum Beispiel Insomnie, Angsterkrankung, Depression, Persönlichkeitsstörung, Anpassungsstörung, Paranoia, psychovegetatives Syndrom, posttraumatische Belastungsstörung und so weiter. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Diagnosen fehlt die entscheidende Ursachenbenennung „Mobbing“. So wie erst die Ursachenbezeichnung „bakterieller Infekt“ die standardisierte Behandlung ermöglicht, das heißt die Vernichtung der Bakterien, so ist auch erst die Ursachenbezeichnung Mobbing geeignet, in Verbindung mit dem Überbegriff „traumatische Belastungsstörung“ eine Bestandsaufnahme zu erheben, um gezielt das Mobbing zu bekämpfen.
Die Aufnahme von Krankheiten verursachendem Mobbing in die Psychotraumatologie ist vollzogen (8), hat aber noch nicht Eingang in den allgemeinen medizinischen Kenntnisstand gefunden – mit fatalen Folgen für Mobbingopfer bei Begutachtung und Therapie.
Die Nichtanerkennung von Mobbingfolgen als Trauma ist auf einen mangelhaften Wissensstand (14) und auf Abwehrprozesse (8) der zu „hilflosen Helfern“ verdammten Therapeuten zurückzuführen, die – anders als in der übrigen Medizin – die Krankheitsursache nicht direkt bekämpfen können. Als Objekt der Behandlung bleibt folglich nur das Mobbingopfer übrig, dem eine „behandelbare Ursache“ in Form von selbstverursachten oder indirekt schuldzuweisenden Fehldiagnosen wie Persönlichkeitsstörungen, Paranoia, Anpassungsstörung auferlegt wird und dem ein therapeutisches Programm übergestülpt wird, was im Ergebnis einer Opferbeschuldigung gleichkommt (14).
Diese ärztlichen Fehleinschätzungen bei Mobbingopfern sind derart häufig, dass der führende europäische Mobbingforscher Heinz Leymann die Phase 4 der Mobbingkatastrophe den ärztlichen Fehldiagnosen und Stigmatisierungen gewidmet hat (14).
Erst wenn man sich in die Situation eines Mobbingopfers hineinzuversetzen vermag, versteht man seine traumatische Erfahrung (8). Erst wenn man weiß, dass eine traumatische Belastungsstörung offensichtlich schwerer und anhaltender ist, wenn der Stress auf Handlungen von Menschen zurückgeht (6), wird man begreifen, dass Mobbing als von Menschen verursachter Psychoterror ein „Psychotrauma“ darstellt. Das mobbingbedingte Psychotrauma begründet sich aus den Gefährdungen der gesundheitlichen Existenz (bis hin zum Suizid), der wirtschaftlichen Existenz (bis hin zum Arbeitsplatzverlust) und der familiären Existenz (bis hin zum Bruch der familiären Strukturen). Mobbing ist pure Gewalt, die jeden, unabhängig von der prämorbiden Persönlichkeit, treffen kann (7).
Fatal für Mobbingopfer ist, wenn professionelle Helfer wegsehen, nicht wahrhaben wollen, bagatellisieren oder sogar durch Fehleinschätzungen im Ergebnis mitmobben: Etwa wenn dem Mobbingopfer mit der Diagnose „Anpassungsstörung“ auch noch vorgeworfen wird, sich dem Mobbing nicht anzupassen. Die diagnostische Einordnung im ICD 10-SGB V bereitet Probleme, da der Begriff Mobbing in keiner Diagnose, auch in der noch am ehesten zutreffenden Diagnose der „posttraumatischen Belastungsstörung“ komplett enthalten ist (11). Letztere Diagnose suggeriert zudem eine Störung nach einem schweren Trauma, während die mobbingbedingte traumatische Belastungsstörung als Folge von vielen kumulierend wirkenden leichten, mittelschweren und gelegentlich auch schweren einzelnen Mobbinghandlungen entsteht.
Therapeutische Problematik
In Ermangelung einer ursächlichen Zugriffsmöglichkeit auf das Mobbing behandelt der „hilflose Helfer“ syndrombezogen statt ursächlich. Begreift der Therapeut die Mobbingfolgen nicht als Trauma, so reagiert der Helfer psychologisch normal mit Resignation, Abwehr oder gar (unterschwelliger) Aggression und projiziert sein „Versagen“ in das Mobbingopfer, dem er ein subjektiv zu verantwortendes krankhaftes Versagen gegenüber den Mobbern unterstellt oder dem er indirekt sogar vorwirft, das Mobbing selbst provoziert zu haben. Diese Opferbeschuldigung erschüttert ein weiteres Mal das Selbst- und Weltverständnis des Mobbingopfers (8), wie schon im Betrieb, wo das Mobbingopfer statt Anerkennung für seine Arbeit Schikane, Ablehnung und drohenden Rausschmiss erfährt.
Selbst Psychotherapeuten, sofern sie nicht in der Psychotraumatologie erfahren sind, neigen zur indirekten Opferbeschuldigung, indem sie ihr Neurosen-Know-how Psychotraumatisierten überstülpen und in der Entwicklungsanamnese nach Ursachen beim Patienten für das Mobbing suchen oder der Frage nachgehen, warum der Patient das Mobbing nicht verhindern kann. Die Opferbeschuldigung ist im psychotherapeutischen Bereich so institutionalisiert, dass selbst der in der Psychotraumatologie erfahrene Therapeut in einem Dilemma steckt: Gutachterpflichtige Psychotherapien werden nur dann genehmigt, wenn in diesem Gutachten eine neurotische Entwicklung herausgearbeitet wird, die in einem inneren Zusammenhang mit dem aktuell zu bearbeitenden Konflikt steht (16). Kein Mensch käme auf die Idee, beim organischen Trauma eines Schädelbruchs durch einen heruntergefallenen Ast nach der Entwicklungsanamnese zu fragen.
Die in der Medizin und ganz besonders in der Psychotherapie zum Dogma erhobene „Neutralität“ des Arztes wird durch die direkte oder indirekte „Opferbeschuldigung“ grob verletzt. Statt einer Opferbeschuldigung fordert die Psychotraumatologie eine Abkehr von der „Neutralität“ hin zur „parteilichen Abstinenz“ (8). Jedoch kann diese Forderung nicht ausreichen, da das traumatische Geschehen bei Mobbing nicht beendet ist, sondern kumulierend andauert. „Parteiliche Abstinenz“ bei Mobbing ist gefährlich nahe an unterlassener Hilfeleistung, weshalb eine „parteiliche Unterstützung“ zum Beispiel durch Atteste, Meldungen an Versicherungsträger und Ähnliches zu fordern ist (14).
Werden die äußeren Umstände des Mobbings nicht beseitigt, verursacht das immer kränker werdende Mobbingopfer Kosten beim Arbeitsamt oder Sozialamt und/oder bei der Krankenkasse durch ärztliche Behandlung, Krankenhausaufenthalte, Krankengeld und später beim Rentenversicherungsträger durch Rehabilitationsmaßnahmen oder vorzeitige Berentung. Jedes einzelne soziale Versicherungssystem ist dabei bestrebt, aus Kostenminimierungsgründen das Mobbingopfer wieder der Arbeit zuzuführen, obwohl alle Maßnahmen, die administrativ und fremdbestimmend am Mobbingopfer ansetzen, regelmäßig scheitern.
In Ermangelung einer gutachterlichen Überprüfung des Zusammenhangs der Krankheitssymptome mit der beruflichen Situation kommt es in Verbindung mit intrapsychischen Abwehrmechanismen der meist nicht ausreichend ausgebildeten Gutachter häufig zu willkürlichen Entscheidungen, die die Opfer teils noch stärker traumatisieren als das Mobbing selbst – so etwa wenn Mobbingopfern durch Beendigung der Arbeitsunfähigkeit die „Willensanstrengung“ zur Bewältigung der Angst auferlegt wird, sich dem Psychoterror der Mobber erneut auszusetzen. Diese Aufforderung zur Willensanstrengung hat ihre Berechtigung bei unbegründeten Ängsten (zum Beispiel Klaustrophobie), aber nicht bei begründeten Ängsten.
Verstoß gegen Arbeitsschutzgesetz
Wer dies verlangt, mobbt mit, obwohl die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien im Punkt 1 Satz 1 und 2 ausdrücklich die Attestierung der Arbeitsunfähigkeit erlauben, „wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Genesung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen“ (3). Diese durch den Kostendruck bedingten „Gesundschreibungen“ haben ein nicht mehr hinzunehmendes Ausmaß erreicht.
Mobbing als Akt des Psychoterrors stellt einen Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz (ArbschG) dar, wonach jeder Arbeitnehmer ein Recht auf eine „menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ hat (1), wonach „vom Arbeitgeber Maßnahmen mit dem Ziel zu planen sind, Technik, Arbeitsorganisation, sonstige Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz sachgerecht zu verknüpfen“ (2).
Ausblick und Forderung
Da Mobbing immer nur dann möglich ist, wenn es von der Betriebsleitung selbst betrieben oder geduldet wird, ist ein Sanktionsszenario auf Betriebsleitungen zu entwickeln, indem die dafür vorgesehenen außerbetrieblichen Institutionen ihre gesetzlichen Aufgaben wahrnehmen. Der behandelnde Arzt meldet der Krankenkasse zum Beispiel über die Krankmeldung gesundheitsgefährdende Arbeitsplatzbedingungen, etwa in Form der Diagnose:
„Mobbingsyndrom“.
Nach § 20 Abs. 2 SGB V hat die Krankenkasse bei begründetem Verdacht auf eine berufsbedingte gesundheitliche Gefährdung „dies unverzüglich den für den Arbeitsschutz zuständigen Stellen und dem Unfallversicherungsträger mitzuteilen“, die Sanktionen in Form von Abmahnungen, Bußgeldern und Schadenersatzforderungen einleiten.
Erst wenn das Mobbingopfer einen außerbetrieblichen Lotsen einer für den Arbeitsschutz zuständigen Stelle und eine „Streitmacht“ hinter sich weiß (Arzt, Psychologe, Selbsthilfegruppen, Mobbingberatungsstellen, Krankenkassen, Renten- und MDK-Gutachter, Unfallversicherungsträger, Betriebsrat, Gewerkschaft, Anwalt, Gericht und andere), besteht eine Aussicht auf Wiederherstellung seiner Gesundheit, Erhalt seines Arbeitsplatzes und auf Schadenersatz.
Die juristische Behandlung der Mobbingproblematik ist noch äußerst unbefriedigend, dringt aber zunehmend in das Bewusstsein von Juristen ein (7, 12) und kann immerhin schon auf eine Mobbingdefinition des Bundesarbeitsgerichts (BAG) verweisen, welche aber die körperverletzenden gesundheitlichen Auswirkungen noch unberücksichtigt lässt (4):
„Mobbing ist das systematische Anfeinden, Schikanieren oder Diskriminieren von Arbeitnehmern untereinander oder durch Vorgesetzte. Es wird durch Stresssituationen am Arbeitsplatz begünstigt, deren Ursachen unter anderem in einer Über- oder Unterforderung einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen, in der Arbeitsorganisation oder im Verhalten von Vorgesetzten liegen können. Schwierigkeiten bereiten vor allem das Erkennen von Mobbing, die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Betroffenen sowie die Abgrenzung gegenüber sozial anerkannten Verhaltensweisen am Arbeitsplatz.“
Juristisch wegweisend für eine puzzleartige Gesamtwürdigung eines eigenständigen Mobbingverfahrens dürfte auch die aktuelle Musterentscheidung des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 10. April 2001 sein, welche in der Entscheidungsdokumentation (5 Sa 403/2000) unter anderem die Entscheidungsstichworte „Mobbing“, „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ und den „Grundsatz des fairen Verfahrens bei Mobbing-Rechtsstreit“ auflistet.
Insbesondere ärztliche und psychologische Psychotraumatologen sind als Sachverständige geeignet, einen möglichen Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Auswirkungen und den Mobbinghandlungen zu begutachten, besonders wenn Tagebucheintragungen, plötzliche Verschlechterung von Arbeitszeugnissen, rechtswidrige Abmahnungen und Kündigungen, eine umfassende Situationsanalyse und Krankheitsanamnese entlang des LIPT-Fragebogens und psychischer Befund ein vollständiges Puzzle ergeben.
Der Beitrag „Mobbing“ am Krankenhaus (DÄ Heft 12/2001) stieß auf große Resonanz bei den Lesern des Deutschen Ärzteblattes, was auch in der regen Diskussion im Internet-Forum (www.aerzteblatt.de) zum Ausdruck kommt. Die Diagnosestellung für Mobbing bereitet allerdings noch große Probleme.
1. Zur Entstehung des Begriffs "Mobbing"
2. Auszüge aus der langjährigen Forschung von Prof. Heinz Leymann
3. Definition von "Mobbing"
4. Mobbing beschreibt einen komplexen psychosozialen Prozess, der...
5. In Abgrenzung zu anderen Konflikten ist Mobbing...
6. Mobbing: Hilflose Helfer in Diagnostik und Therapie