Artikel in der östereichischen Ärzte Woche

"Alt mobbt Jung, Jung mobbt Alt"

Vor allem junge Ärztinnen und Ärzte werden am Arbeitsplatz zu Mobbing-Opfern.

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18. August 2016

Die tägliche Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen ist hoch. Da verwundert es kaum, dass in Kliniken und Praxen häufiger gemobbt wird als andernorts. Opfer gibt es dabei in allen Berufssparten, besonders oft sind freilich die Jungen betroffen. In Wiesbaden, Deutschland wurde ein Verein gegründet, der diese Herausforderung aktiv anpacken will.

Mit einem roten Filzstift in der rechten Hand steht Lothar Drat vor einem Flipchart. Er zeichnet ein Organigramm, das eine konfliktbelastete Situation sichtbar machen soll. Und Konflikte gibt es viele im Wiesbadener Büro des 62-Jährigen. Er ist Leiter der Beratungsstelle „Balance“ des Vereins gegen psychosozialen Stress und Mobbing (VPSM), der mittlerweile als Fachverbund in fast allen Bundesländern Deutschlands vertreten ist.

Psychologen, Coaches, Juristen und Sozialpädagogen kümmern sich um die oft verzweifelten Klienten und versuchen, ihnen beim Entwirren und Aufarbeiten von festgefahrenen Differenzen am Arbeitsplatz zu assistieren. Etwa 170 Beratungsstunden werden pro Monat in Wiesbaden geleistet. Die Ärztin, die von einem Kollegen in Teambesprechungen immer und immer wieder als inkompetent dargestellt wird. Der junge Arzt in Weiterbildung, der von seiner Chefin schlichtweg tyrannisiert wird. Oder die ältere Krankenschwester, die darunter leidet, dass die Auszubildende sie offen verspottet und sie mehr und mehr an den sozialen Rand der Kollegengruppe drängt. Beispiele für Mobbing gibt es viele.

In einer Studie der Stiftung Eurofound zu Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa (Eurofound, die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, erhebt regelmäßig Daten zu den Arbeitsbedingungen in Europa;www.eurofound.europa.eu) gaben zwölf Prozent der Befragten in Deutschland und 17 Prozent in Österreich an, auf der Arbeit Beschimpfungen ausgesetzt gewesen zu sein. Sechs Prozent wurden in Österreich am Arbeitsplatz sogar bedroht und erniedrigt, gemobbt oder belästigt fühlten sich sieben Prozent - und zwei Prozent wurden körperlich angegriffen. Die Dunkelziffer liegt wie so oft viel höher: Experten schätzen, dass jeder Vierte in einem durchschnittlichen Arbeitsleben von 35 Jahren mindestens einmal und mindestens sechs Monate lang gemobbt wird.

Problem im Gesundheitswesen

Wie viele Menschen sich in ihrem Arbeitsumfeld unwohl fühlen, macht sich auch an den Zahlen des VPSM bemerkbar. Der Beratungsbedarf ist seit Jahren hoch, allerdings war 2015 erstmals wieder ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Unter denen, die Rat bei der Beratungsstelle in Rambach suchen, einem ländlich geprägten Teil der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, sind zahlreiche Ärzte, Klinikmitarbeiter, Pfleger. „Rund zehn Prozent der Leute, die zu uns kommen, stammen aus dem Gesundheitswesen“, schätzt Drat. „Mitarbeiter aus dem Sozial- und Gesundheitswesen sind sechs- bis siebenmal so häufig betroffen wie Menschen aus anderen Berufen.“

Der VPSM berät nicht nur bei Mobbing, sondern bietet auch Schlichtung und Mediation sowie Fortbildungen an, die das Betriebsklima präventiv verbessern sollen. Praxis- und Klinikmitarbeiter können sich in Deutschland an die Beratungsstelle wenden, aber auch die Praxisleitung selbst kommt zu Drat, in der Hoffnung darauf, scheinbar unlösbare menschliche Konflikte doch noch aufzudröseln. Und auch ein Kreiskrankenhaus hat das Wiesbadener Team schon gecoacht. Auftraggeber sind auch Krankenkassen, Hilfsorganisationen und Pharma-Unternehmen, Betriebe und Stadtverwaltungen. Schulungen und moderierte Gespräche können bei weniger stark eingefahrenen Situationen eine schnelle Verbesserung bringen.

Oft sieht der Chef nicht hin

Geht es jedoch um Mobbing, ist keine einfache Lösung in Sicht. Im Idealfall beobachtet der Vorgesetzte von sich aus, dass sein Mitarbeiter ein Problem hat. „Doch oft sieht der Chef das Problem nicht, weil er selbst zu viel zu tun hat oder in den entscheidenden Angriffssituationen nicht dabei ist“, sagt Drat. Der erste Schritt ist also ein Gespräch mit dem Vorgesetzten, parallel kann eine Abklärung und Einordnung der eigenen Optionen durch Beratungsstellen erfolgen.

„Wir arbeiten in der Erstberatung mit dem Organigramm, zeichnen darauf auf einem Zeitstrahl die Ereignisse seit Eintritt in das Unternehmen ein und bewerten sie“, sagt Drat. Auch die private Situation fließt ein, genauso wie der Eigenanteil, der erst einmal herausgearbeitet werden muss.

Mobbing in alle Richtungen

Aufgemalt auf dem Flipchart wird deutlich, in welche „Richtung“ der Konflikt verläuft. Denn Mobbing bezieht sich nicht nur auf Angriffsbegegnungen zwischen zwei Gleichgestellten. Der Vorgesetzte kann den ihm Unterstellten mobben - und umgekehrt. Manche Experten sprechen von „Bossing“ durch den Vorgesetzten beziehungsweise „Staffing“ durch den Unterstellten. Drat und seine Kollegen unterscheiden diese Formen von Mobbing im Sprachgebrauch nicht, wissen aber, dass die Dynamik je nach „Richtung“ eine andere sein kann. Charakteristisch für Mobbing sind wiederkehrende Angriffe über einen längeren Zeitraum. Das Organigramm ermöglicht einen Blick auf die Struktur des Problems, das in aller Regel nicht nur eine Ursache hat, betont der Berater: „Denn die angreifende Person braucht vielleicht viel eher eine Lösung als die angegriffene Person.“

Nimmt der VPSM nach Absprache mit dem Klienten Kontakt zu dessen Peiniger auf, dann wird der Begriff Mobbing vermieden, um nicht von vornherein mit einer Schuldzuweisung zu arbeiten. Stattdessen wird ein Konfliktmanagement angeboten, um das Betriebsklima zu verbessern. So oder so sei es wichtig, die Gegenseite mit ins Boot zu holen. „Der Konflikt kann nur gelöst werden, wenn die Sache zwischen den beiden geklärt wird.“ Neben einem begleiteten Gespräch kann der Gegenseite auch ein eigener Coach zur Verfügung gestellt werden, der mit dem Coach des Klienten stellvertretend streitet. Oft ist die Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle langwierig.

Deshalb stellt Drat im Gespräch mit seinen Klienten früh klar, dass es eine Lösung „in fünf Minuten“ nicht geben kann. Manche sind über Monate, andere über Jahre in der Beratung. Am Anfang stünden „Feuerwehrmaßnahmen“ an, später dann das Einüben und Besprechen von Mechanismen, die auf lange Sicht helfen können. Kurzfristig könnten fiktive Briefe an den Konfliktpartner greifen, in denen die belastende Situation geschildert wird, oder das Erstellen einer Prioritätenliste mit den schlimmsten Angriffen, sagt Drat.

Die Beratung hat neben der psychologischen meist auch eine juristische Komponente. Denn wenn Arbeitgeber Mobbing tolerierten, verstoßen sie gegen ihre Fürsorgepflicht, heißt es im Informationsmaterial des VPSM. Darüber hinaus wird der Gemobbte, nun, da er bereits stigmatisiert ist, nicht selten als vermeintlicher Störenfried wahrgenommen und selbst mit einer Abmahnung oder Kündigung konfrontiert – ein Verstoß gegen geltendes Recht.

Finanzieller Schaden

Nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht sollten Vorgesetzte daran Interesse haben, Mobbing zu verhindern oder zu bekämpfen. „Betroffene können ernsthaft erkranken, das schädigt das Arbeitsklima in einem Ausmaß, der sogar ernsthafte Einbußen der Wettbewerbs- oder Leistungsfähigkeit nach sich ziehen kann“, rechnet Drat vor. Viele Mobbing-Opfer können ihre Situation selbst nur schlecht einordnen und verlieren die Hoffnung, fühlen sich isoliert. 38 Prozent der Menschen, die zu ihm kommen, seien bereits in Behandlung, berichtet der Beratungsstellenleiter - beim Hausarzt, beim Facharzt oder Therapeuten. „Die Mehrheit wird bei psychosozialem Stress und Mobbing verzweifelt depressiv, die Minderheit verzweifelt obsessiv.“ Der Leidensdruck ist in beiden Fällen enorm. Drat ist es wichtig, klarzustellen, dass es sich bei der Arbeit seines Vereins nicht um eine Therapie handelt, sondern um eine Beratung mit therapeutischen Elementen. Entsprechend übernehmen die deutschen Krankenkassen die Kosten nur in Ausnahmefällen. Für Arbeitgeber, Krankenkasse oder sonstige Institutionen kostet eine Beratungsstunde von 45 Minuten 84 Euro, Selbstzahler können eigenständig Preise ansetzen. Bei Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Schülern und Geringverdienende ist ein Zuschuss aus Spendengeldern und Bußzahlungen möglich.

Verunsicherung wächst

Den Grund dafür, dass das Gesundheitswesen eine von Konflikten und Mobbing besonders betroffene Berufssparte ist, sieht Drat in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die zu immer mehr Arbeitsverdichtung führen – und zu immer aufgebrachteren Kämpfen. „Viele Menschen sehnen sich nach früheren Zeiten zurück, als die Regeln weniger eng gefasst waren und sie auf der Arbeit noch mehr Spielraum für eigene Entscheidungen hatten“, sagt der Sozialpädagoge, durch Neustrukturierungen würden Druck und Verunsicherung wachsen, und „wenn sich der Druck erhöht, erhöht sich das Risiko, dass ein Ventil platzt“. Dann könne ein normaler Konflikt eskalieren - und plötzlich in eine Richtung gehen, die der Angreifer so gar nicht wollte oder geplant habe. Wehrt sich das Opfer nicht, verliert der Mobber jedoch den Respekt – und die Situation kann zur Spirale werden, die sich immer weiter hochschraubt; an deren Ende sind schließlich auch körperliche Angriffe nicht mehr auszuschließen sind. Um das zu verhindern, ist es gut, wenn rechtzeitig die Reißleine gezogen wird. Wer Mobbing beobachtet, könne sich zum Beispiel klar positionieren, indem er den Mobber wieder zurück auf den Boden holt und ihm bewusst macht, dass andere ihn ebenfalls wahrnehmen können. „Da langt es oft schon, zum Beispiel laut und fragend ,Hallo?‘ zu sagen“, empfiehlt Drat. Der Mobbingberater, der seit 20 Jahren auf diesem Gebiet arbeitet, macht Betroffenen Mut, sich Hilfe zu suchen: „Eine Konstellation, die nicht zu lösen ist, hat es in all der Zeit nicht gegeben.“

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VPSM - Verein gegen psychosozialen Stress und Mobbing e.V.
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